Soll der Taufschein Nachbarskinder entzweien?

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„Es ist ein beschämendes Trauerspiel.“

Bonn, 8.2.2017

Acht Jahre ist es her, dass sich der Bonner Stadtrat mit den Aufnahmekriterien der städtischen Grundschulen beschäftigen musste. Allgemein herrschte großes Unverständnis darüber, dass Kinder nicht gemeinsam mit ihren Kindergartenfreunden und Nachbarskindern in die gleiche Grundschule gehen durften, weil sie die falsche Religion hatten oder ungetauft waren. Aus diesem Grund entstand 2009 die Initiative „Kurze Beine – kurze Wege“, um sich gegen diese Form der religiös begründeten Diskriminierung durch staatliche Einrichtungen einzusetzen. Bundesweit wurde damals über die offensichtliche Benachteiligung Un- und Andersgläubiger berichtet, unter anderem in Spiegel Online, Monitor und der Welt. Der Kabarettist Jürgen Becker sprach ohne falsche Scheu über „den Schwachsinn mit den Bekenntnisschulen in Nordrhein-Westfalen“.

Die Politik war seither nicht untätig. 2013 verfügte das Schulministerium per Erlass, dass Eltern, die sich mit Erziehung und Unterrichtung im Schulbekenntnis einverstanden erklärten, mit entsprechend getauften Kindern gleichzustellen waren. 2015 wurde das Schulgesetz geändert, um die Umwandlung von Bekenntnisschulen zu erleichtern. Für eine Abschaffung öffentlicher Bekenntnisschulen fanden sich aber keine ausreichenden politischen Mehrheiten. Die Klage eines katholischen Kindes auf bevorzugte Aufnahme in einer Bekenntnisschule führte 2016 zu einem OVG-Beschluss, der den Schulerlass von 2013 für ungültig erklärte: Katholische Kinder müssen an katholischen Grundschulen ohne Einschränkung bevorzugt aufgenommen werden. Der Schulweg spielt keine Rolle.

Im Februar 2017 kommt es nun erneut dazu, dass Kinder an der wohnortnächsten städtischen Grundschule keine Aufnahme finden, weil entfernt wohnende Kinder mit dem richtigen Bekenntnis von Rechts wegen vorgezogen werden müssen. In einem Interview mit dem Bonner General-Anzeiger nennt Staatsrechtler Prof. Dr. Hinnerk Wißmann – nach eigenen Angaben ein Freund der Kirchen – die Verpflichtung zum Besuch des Religionsunterrichts einen „erzwungenen Grundrechtsverzicht“, der „offen verfassungswidrig“ ist. Und weiter:

„Nordrhein-Westfalen ist (neben einem kleinen Gebiet in Niedersachsen) das einzige Bundesland, das heute noch staatliche Bekenntnisschulen betreibt. Tatsächlich ist aber heute nirgendwo mehr eine konfessionelle Einheit von Schülern und Lehrern gegeben. Die religiöse Prägung dient als Fassade für die wunschgemäße Zusammensetzung der Schülerschaft und führt zu einer sozialen Entmischung. Es ist ein beschämendes Trauerspiel.“

Wißmann hofft auf einen Erfolg des Rechtsstaats, um die nicht mehr zeitgemäßen staatlichen Bekenntnisschulen abzulösen: „Auf Dauer, so ist zu hoffen, wird das Bundesverfassungsgericht auch hier den Bürgerrechten zum Durchbruch verhelfen.“

Klagebefugt sind nur Betroffene. Um diesen Weg also erfolgreich zu gehen, müssen sich Familien finden, die sich zwar eine Beschulung an einer staatlichen Bekenntnisschule wünschen, aber ausdrücklich eine Teilnahme ihres Kindes am Religionsunterricht ablehnen. Wenn das Kind in der Folge von der Schule abgelehnt wird, kann die Familie auf Aufnahme klagen. Nach der zu erwartenden Ablehnung der Klage durch Verwaltungsgericht und Oberverwaltungsgericht kann im nächsten Schritt Verfassungsbeschwerde erhoben werden und die Politik wäre im Erfolgsfall zu entsprechenden Änderungen gezwungen. Tatsächlich hat eine betroffene Familie bereits entscheidende Schritte auf dem kostspieligen Weg durch die Instanzen hinter sich gebracht.

Berichterstattung im General-Anzeiger Bonn vom 8.2.2017

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